#1 Brain drain

2 Dec 2021

Lesezeit 46 Minuten

#1 Brain drain

In der Regel bezeichnet "Brain Drain" die Abwanderung einer Gruppe hochqualifizierter Arbeitskräfte aus dem globalen Süden in den globalen Norden, die damit eine gesellschaftliche Lücke im “Herkunftsland” hinterlässt. Deutschland erlebt in den vergangenen Jahrzehnten einen Brain Drain der besonderen Art. In den 90ern und 2000er Jahren fand bundesweit eine Abwanderung von BIPoC und jüdischen Wissenschaftler*innen statt, welche die Weiterentwicklung von Teildisziplinen wie post- und dekolonialer Forschung auf hiesige Kontexte und damit den Diskurs in Deutschland massiv zurückgeworfen hat. Die Wissenschaftler*innen besetzen mittlerweile zahlreiche Lehrstühle an renommierten Universitäten im Ausland und forschen dort zu post*migrantischen Themen. Die Folge “Brain Drain” geht der Frage nach, wie es zu dieser Entwicklung kam und wie sie auch heute noch unser Denken über Deutschland als post*migrantische und postkoloniale Gesellschaft prägt.

Wir alle haben sicherlich schon mal den Ausdruck “Wissen ist Macht” gehört. Die Geschichten von Ben Baader, Fatima El-Tayeb, Kofi Yakpo, Encarnación Gutiérrez-Rodríguez, Kien Nghi Ha und Patrice Poutrus zeigen, dass dieser Zusammenhang von Macht und Wissen viele Widersprüche enthält. Unsere Protagonist*innen haben einerseits die Wissenschaft und ihre Methoden, die Strukturen der Uni mit ihren vielfältigen Ressourcen genutzt, um sich selbst und ihre Communities zu empowern. Andererseits haben ihnen dieselben Strukturen und die dominierenden Wissensbestände immer wieder Steine in die Verwirklichung ihrer eigenen Karrieren gelegt. Unterm Strich ist es leider auch heute noch so: Wer sich aus einer sogenannten Betroffenenperspektive wissenschaftlich mit deutscher Geschichte und Gegenwart beschäftigen möchte, wird schnell an den Rand gedrängt und als unwissenschaftlich abgetan. Vor dem Hintergrund, dass es sowieso schwer ist, an deutschen Unis gute Jobs zu bekommen, gestaltet sich die gläserne Decke für Nachwuchswissenschaftler*innen, die mehrfach diskriminiert sind, als noch undurchlässiger.

In den späten 80ern und 90er Jahren sahen sich unsere Protagonist*innen mit einem erstarkenden deutschen Nationalismus und täglicher rassistischer Gewalt konfrontiert. Genau da war es besonders wichtig, Rassismus als strukturelles Problem zu benennen und im Detail auszubuchstabieren, was das bedeutet. Zum Beispiel, dass Kinder von Arbeitsmigrant*innen und Geflüchteten in segregierte Klassen geschickt wurden, oder dass sie von den Profs und Kolleg*innen immer nur als Repräsentant*in der eigenen Community gesehen wurden.

Unsere Protagonist*innen haben bereits früh angefangen, die damaligen Verhältnisse rassismuskritisch und postkolonial zur deutschen Geschichte in Bezug zu setzen. Dabei beschrieben sie die historischen Kontinuitäten von Rassismus und Antisemitismus und deren massiven Auswirkungen auf die betroffenen Communities. Während ihre Wissensproduktionen auf große Resonanz in den Communities stießen, blieben sie im weißen Wissenschaftsbetrieb außen vor. Viele marginalisierte Nachwuchswissenschaftler*innen erhielten keinen Zugang zu guten Stellen, keine Forschungsfinanzierung, keine Stipendien. Ihre arbeiten sind auch heute noch nicht im Kanon angekommen. 

Das führte dazu, dass viele ins Ausland gegangen sind und dadurch hier vor Ort große Wissenslücken entstanden sind. Für uns ist das eine Art von Brain Drain. Eigentlich bezeichnet Brain Drain die Abwanderung von gut ausgebildeten jungen Menschen aus einem ökonomisch schwachen in eine ökonomisch starkes Land. Hier allerdings verliert der deutschsprachige Kontext wichtige wegweisende Denker*innen durch strukturellen Ausschluss.

Nicht nur der Wissenschaft sind kluge Köpfe verloren gegangen. Viel wichtiger ist eigentlich, was den Communities durch das Wegbrechen solcher rassismuskritischer Perspektiven genommen wird. Wir können nur spekulieren, wie aktuelle Diskussionen um Rassismus und Antisemitismus aussehen würden, wenn alle, die in dieser Folge zu Wort kamen, vor uns als Professor*innen in unseren Seminaren gestanden hätten. Wir hätten unmittelbaren Zugang zu ihrer Forschung gehabt und hätten ihre Erkenntnisse in die konkrete Praxis umsetzen können.

Statt dessen liegt ein Haufen loser Fäden vor uns. Im Laufe des Podcasts wollen wir die einzelnen Fäden aufgreifen und miteinander verknüpfen. In der nächsten Folge beschäftigen wir uns mit feministischen Bündnissen jenseits der weiß-deutsch-christlichen Frauenbewegung. Passend dazu möchten wir zu Ben Baader zurückkehren. Ben hat einen Abschiedsbrief verfasst, der 1993 in dem Sammelband Entfernte Verbindung erschien.

Transkript

[Intro]
(Beat und Kassettengeräusche im Hintergrund)

Lose Fäden - Ein Mixtape post*migrantischer Geschichten der 90er.

Ben Baader: Was ich ganz spannend finde, wo du völlig recht hast, was ich einfach so nie formuliert habe – aber warum sind nicht ein paar von uns eure Profs geworden? Und das stimmt. Wir sind weggegangen, ja, sorry. Das ist spannend, sich das so zu überlegen.

Bahareh Sharifi: (Hintergrundgeräusche: Beats, Kassettengeräusche)
Ich bin Bahareh Sharifi.

Trang Tran: Und ich bin Trang Tran. Das ist der Podcast “Lose Fäden”. Für unsere heutige Folge haben wir mit Wissenschaftler*innen gesprochen, die eigentlich unsere Profs hätten sein sollen und es irgendwie nicht geworden sind. Das sind Leute, die sich als jüdisch, Romani, Schwarz, People of Color, migrantisch oder geflüchtet positionieren und für uns und viele andere mit Marginalisierungserfahrungen Schlüsseltexte geschrieben haben. Trotz ihrer intellektuellen Pionierarbeit sind sie gar nicht im Mainstream-Kanon der deutschen Wissensproduktion angekommen.

 

Bahareh Sharifi: Viele von ihnen sind gar nicht mehr in Deutschland. Ben Baader zum Beispiel.

 

Ben Baader: Mein voller Name ist Benjamin Maria Baader, [mit englischer Aussprache:] Benjamin Maria Baader. Das ‚Maria‘ benutze ich heute eher nicht, ein bisschen als Kürzel manchmal, Benjamin M. Baader, bei Veröffentlichungen. Der Name, unter dem ich als Frau gelebt habe, bevor ich transitioned bin, ist Maria Baader. Das heißt, Teile der Veröffentlichungen, wo wir drüber sprechen, habe ich noch als Maria Baader veröffentlicht. Ich bin Associate Professor für Europäische und Jüdische Geschichte an der University of Manitoba in Winnipeg, Kanada.

 

Bahareh Sharifi: Ben Baader hat wenige Jahre nach der deutschen Einheit eine einschneidende Lebensentscheidung getroffen. Er beschreibt für uns diese Zeit Anfang der 90er und nennt einige der Gründe, warum er Deutschland damals verlassen hat.

 

Ben Baader: In den Wochen, nachdem die Mauer gefallen ist, habe ich entschieden, wegzugehen. Das war damals wirklich sehr, sehr beängstigend. Ich hatte damals das Gefühl, dass das Nachkriegsdeutschland vorbei ist und diese Welle von deutschem Nationalismus und “wir sind wieder wer und wir müssen irgendwie nicht mehr zurückschauen, wir können wieder stolz sein, wir sind wieder ein Volk und wir waren dabei”. Also diese ganze deutsche Euphorie um den Mauerfall hat, ich sag mal mir, aber auch uns, neben dem Freundinnenkreis – jüdisch, aber auch Immigrantinnen, Flüchtlingsfrauen, Schwarze deutsche Frauen – sehr Angst gemacht. Dann ging’s los mit rassistischen Angriffen sehr bald, als die allererste Euphorie vorbei war, aber auch in den ersten Wochen um Mauerfall und so. Dann war irgendwie nicht klar, ob Deutschland die Ostgrenze zu Polen anerkennen wird. Es war politisch beängstigend. Und ich habe an einem neuen Deutschland kein Interesse gehabt. Das Gefühl war damals, dass das wirklich der Schlussstrich sein wird mit Vergangenheitsbewältigung und Zurückschauen und sich mit Shoah auseinandersetzen und so weiter.

 

Bahareh Sharifi: Was Ben uns da erzählt hat, war etwas, was wir uns heute eigentlich gar nicht mehr so gut vorstellen können. In dieser Zeit der Umbruchsphase war überhaupt nicht klar, wie dieses neue Deutschland sein wird und wie es sich zusammensetzen wird.

 

Ben Baader: Die persönliche Ebene war: auch wenn es politisch vielleicht doch nicht ganz so schlimm kommt, dieses Leben, wo die Vergangenheit ständig in die Gegenwart rutscht und Nazideutschland und Gegenwartsdeutschland immer für mich große emotionale Arbeit ist, das ständig auseinanderzuhalten, und das wollte ich nicht mehr.

 

Bahareh Sharifi: Ben hat dann seine Koffer gepackt und ist mit seiner Freundin nach New York gezogen. Er hat zunächst an der Columbia University in New York einen Master in Jüdische Studien absolviert und im Anschluss da noch promoviert. Er war dann an verschiedenen nordamerikanischen Universitäten und hat 2005 eine Professur-Stelle angetreten in Kanada, die er bis heute noch ausfüllt. Seine Studien und Lehren zum jüdischen Leben in Deutschland werden nicht mehr direkt an deutschen Universitäten Studierenden zugänglich sein.

 

Trang Tran: Die Lebensentscheidungen, die Ben Baader für sich getroffen hat, sind total nachvollziehbar und dennoch hinterlassen sie eine große Lücke. Und nicht nur bei Ben ist das so. Viele People of Color, Sinti*zze und Rom*nja, Jüdische, Schwarze, migrantisierte und geflüchtete Menschen haben versucht, in diese deutschen Zustände um den Mauerfall herum einzugreifen. Sie haben als Zeitzeug*innen und Aktivist*innen bereits früh an Ort und Stelle versucht, die Geschehnisse zu verstehen und kritisch zu kommentieren. Diese Stimmen und Positionen sind leider oftmals verschütt gegangen und nicht mehr allen zugänglich. In dieser Folge wollen wir deswegen versuchen entlang der akademischen Werdegänge unserer Protagonist*innen einige Hintergründe zu finden, die unserer Meinung nach die mangelnde Präsenz von kritischer Wissensproduktion innerhalb der Universitäten in Deutschland erklären. Eine andere Person, mit der wir über ihren akademischen Werdegang im Zusammenhang mit ihrem politischen Engagement gesprochen haben, ist Fatima El-Tayeb.

 

Fatima El-Tayeb: Ich heiße Fatima El-Tayeb. Ich bin in der Nähe von Hamburg aufgewachsen, bin jetzt aber schon seit mehr als 20 Jahren aus Deutschland weg. Ich war für eine Weile in Amsterdam, dann in den USA, fast die ganze Zeit in Südkalifornien. Und ich bin jetzt vor ein bisschen mehr als zwei Wochen an die Ostküste der USA umgezogen, zum neuen Job. Ich bin hier in Yale Professorin für Ethnicity, Race and Migration und Women’s, Gender, and Sexuality Studies.

 

Trang Tran: Ja, und der Weg zu einer Yale-Professur ist schon ganz schön steinig, wenn man zuerst durch die deutsche Hochschullandschaft muss.

 

Fatima El-Tayeb: Wie gesagt, ich bin in einem kleinen Kaff in der Nähe von Hamburg aufgewachsen und war einfach schon früh politisiert, weil es einfach ein sehr rassistisches Umfeld war. Es war super weiß, und nicht irgendwelche liberalen, progressiven Weißen. Also war ich sehr stark damit konfrontiert „Was machst du eigentlich hier?“. Und viele Vorstellungen zu dem, was ich eigentlich sein sollte, die mir völlig unerklärlich waren, weil ich zu jung war und weil ich auch einfach niemand und nichts hatte, das mir das erklärt hat. Also habe ich schon ziemlich früh mich auseinandergesetzt mit der Schwarzen Bewegung in den USA. Einfach weil es zugänglich für mich war, über unsere lokale Bücherei. Da gab es Bücher zur Bürgerrechtsbewegung, zu Malcom X. Und ich glaube, so habe ich mir erstmal eine indirekte Community geschaffen. Aber Schwarze Bewegung zu finden war viel schwieriger. Ich war auch immer ein bisschen verschreckt, ehrlich gesagt, wenn ich andere Schwarze Deutsche irgendwo getroffen habe. Aber erstmal war es einfach ein Glück für mich, dass ‚Farbe bekennen‘ – ich weiß nicht mehr, ich war so 18, 19, 20, weiß ich nicht mehr genau – aber dadurch hat sich natürlich viel kristallisiert und das war für mich eigentlich der Weg zu einer Bewegung.

 

Trang Tran: Vielleicht kennen noch nicht alle den Sammelband ‚Farbe bekennen - Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte‘. Der erschien 1986 und wurde von May Ayim, Katharina Ogunytoye und Dagmar Schultz im Orlanda Verlag herausgegeben. Darin wurden erstmals Afro-deutsche Geschichten aus eigener Perspektive untersucht und einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Noch heute zählt ‚Farbe bekennen‘ zu einer der ersten Artikulationen Schwarzen Selbstbewusstseins in Deutschland und wird auch jenseits der Afro-deutschen und Schwarzen Communities als aktivistisches Standardwerk rezipiert. Und Fatima El-Tayeb beschreibt das Buch selbst ja als Weg zu einer Bewegung. Das Community-Wissen, das in ‚Farbe bekennen‘ gespeichert ist, hat sie dazu motiviert, sich selbst auf eine Art Spurensuche zu begeben.

 

Fatima El-Tayeb: Ich wollte keine Uni-Karriere machen. Ich wollte was rausfinden über die Geschichte meiner Community, weil eine ganz prägende und typische Erfahrung für Leute meiner Generation war: “Sowas wie dich haben wir noch nie gesehen. Das gab es noch nie.” Und dann herauszufinden, dass es einfach überhaupt nicht stimmt, das war eine total intensive Erfahrung, weil mir das auch klar gemacht hat: es gibt da dieses ganze Gerüst von deutscher Geschichte. Das geht von wie Leute sich selber identifizieren, zu Schulbüchern, zur akademischen Welt, wo systematisch bestimmte Sachen nicht vergessen werden, sondern ausgeschlossen werden. Was ich eigentlich erst einmal wollte an der Uni war, die Mittel oder die Techniken zu bekommen, um sowohl rauszufinden, was da eigentlich war, aber auch rauszufinden, warum das jetzt so wichtig ist, das zu unterdrücken.

 

Trang Tran: 2001 veröffentlichte Fatima El-Tayeb ihre Doktorarbeit ‚Schwarze Deutsche – Rasse und nationale Identität 1890 bis 1933‘ an der Uni Hamburg. Sie beschreibt darin die Genese von Anti-Schwarzem Rassismus in der Wissenschaft des deutschen Kaiserreichs und liefert starke Argumente dafür, dass wir deutsche Geschichte nur verstehen können, wenn wir sie auch aus einer rassismuskritischen Perspektive aus betrachten. Das mag jetzt alles fast schon selbstverständlich klingen, war es aber in den 90ern und frühen 2000er Jahren überhaupt nicht.

 

Fatima El-Tayeb: Mein Doktorvater war in amerikanischer Geschichte, weil niemand in deutscher Geschichte mit meinem Thema arbeiten wollte. Und der hat mich zwar sehr unterstützt, aber wusste im Prinzip nichts zu dem Thema. Wenn ich als Studentin an irgendwelchen Konferenzen teilgenommen habe, irgendwelche Vorträge gehalten habe, waren die Reaktionen sehr, sehr, sehr negativ, vor allem von weißen deutschen Profs. Also da bin ich oft total runtergemacht worden. Zum einen, weil mein Argument war: Es gibt einen kontinuierlichen Rassismus in Deutschland, der sich in die Gegenwart fortsetzt und der sich auch in der akademischen Welt widerspiegelt. Und das war für die Alt-68er absolut inakzeptabel. Und auch damals noch sowas zu sagen wie: Es gab vor 1933 einen systematischen Rassismus, der sich in den Kolonien ausgelebt hat, den Völkermord in Namibia als solchen zu bezeichnen, zu sagen, dass dieser koloniale Rassismus eine der Wurzeln des Nationalsozialismus war – es war einfach noch total tabu. Das war unwissenschaftlich, politisch, im schlimmsten Fall vielleicht auch noch irgendwie Holocaust-Verharmlosung. Es war einfach ganz klar zu sagen, es gibt einen Zusammenhang zwischen Geschichtswissenschaft und Politik und da ist keine klare Trennungslinie. Die Wissenschaft guckt nicht objektiv auf das, was in der Gesellschaft passiert, sondern ist von der Gesellschaft geprägt. Unter anderem sichtbar darin, dass ich wirklich immer die einzige oder fast immer die einzige PoC im Raum war. Das ließ sich einfach nicht thematisieren und wenn, dann ganz bestimmt nicht von so jemandem wie mir. Also es war einfach, das war schon schon ziemlich hardcore und ziemlich aggressiv. Und wie gesagt, es ging dann wirklich immer nur darum, quasi dagegen anzukämpfen und nicht darum, sich wirklich über die Arbeit auszutauschen. Die Frage war immer nur: “Kann man das machen?” Ich habe immer eine Gruppe repräsentiert. Ich war keine Wissenschaftlerin, sondern ich war eine von denen. Und das war schon, einerseits ein bisschen motivierend, einfach da zurückzupushen, aber letztendlich war es einfach sehr erschöpfend. Mein Doktorvater hat mir gesagt, wenn du einen Job an der Uni in Deutschland willst, musst du zu etwas anderem arbeiten. Das war nicht wirklich eine Option, aber letztendlich dachte ich mir auch, so will ich nicht den Rest meines Lebens verbringen, mit irgendwelchen Leuten dann ewig kämpfen zu müssen, damit sie wirklich ganz fundamentale, banale Sachen anerkennen. Aber es war auch, ich meine, ich habe die Diss[ertation] ja auch nicht für die Uni geschrieben, sondern für die Community, als eine der Formen, in denen wir unsere Geschichte archivieren können.

 

Trang Tran: Es wird hier total deutlich, wie nervenaufreibend es wohl war, sich ständig an den weißen Strukturen im deutschen geschichtswissenschaftlichen Diskurs abzuarbeiten. Diese aggressive Stimmung, die Anfeindungen gegenüber ihr und ihre Arbeit, von denen Fatima El-Tayeb da erzählt, haben auch an ihrer Energie gezehrt.

 

Fatima El-Tayeb: Also Deutschland war für mich einfach immer Kampf. Es war irgendwie immer versuchen, sich einfach minimalen Freiraum zu schaffen. Und das war mir einfach nichts. Deswegen bin ich dann aus Deutschland weggegangen. Erstmal nach Amsterdam. Es war schon eine ganz andere Welt. Es war wirklich möglich, freier zu atmen da. Es war auch, als ich hingegangen bin in den 90ern, sehr so ein Sammelpunkt für Queers of Colour aus ganz Europa, eigentlich aus der ganzen Welt, also auch viele Leute aus Südafrika damals. Ja, da war das, glaube ich, auch mehr – ich weiß es nicht. In Deutschland war es auch schon so eine gelebte People of Color-Community, aber auch mit vielen Spannungen. Dass ich dann in den USA gelandet bin, war eigentlich Zufall. Ich habe ein Stipendium bekommen. Eigentlich erstmal über den Film, den ich mit Angelina gemacht habe, gar nicht über meine akademische Arbeit. Und dann hat sich eins nach dem anderen ergeben und ich bin hiergeblieben. Und dann auch in der akademischen Welt geblieben, weil das einfach eine ganz andere Erfahrung war hier. Also in Deutschland ging es immer nur darum, zu erklären oder zu klären, ob das, was ich mache, überhaupt akademisch ist. Es ging nie um irgendwelche Details, um einen wirklichen Austausch und das war hier völlig anders. Das war schon auch eine sehr, sehr gute Erfahrung.

 

Trang Tran: Fatima beschreibt hier ganz eindrücklich die Vereinzelung, die sie als Person of Color in der deutschen Geschichtswissenschaft erlebt. Dieser Vorwurf, sie würde aus der Opferperspektive gar kein objektives Wissen produzieren können, dem begegnen ganz schön viele marginalisierte Akademiker*innen.

 

Kofi Yakpo: Ja, ich bin Kofi Yakpo aka Linguist von Advanced Chemistry. [Einspieler Song ‚Fremd im eigenen Land“: Wir kämpfen gegen Vorurteile und Rassismus.] … mein Alter Ego.

 

Einspieler: Ich habe eine grünen Pass mit ‘nem goldenen Adler drauf. Dies bedingt, dass ich mir oft die Haare rauf’.

 

Bahareh Sharifi: Viele kennen Kofi Yakpo als Linguist von der Hip Hop-Band Advanced Chemistry. Advanced Chemistry gründete sich 1987 in Heidelberg. Sie waren einer der Pioniere des deutschsprachigen Hip-Hop und sind bis heute noch eine sehr, sehr wichtige und prägende Band.

 

Einspieler: …nicht so blass ist im Gesicht… Das Problem sind die Ideen im System. Ein echter Deutscher muss auch richtig deutsch aussehen.

 

Bahareh Sharifi: Tatsächlich kam der Name Linguist nicht von ungefähr. Kofi hat sich sehr früh schon für Sprachen interessiert und hat parallel zu seiner musikalischen Karriere auch einen akademischen Werdegang eingeschlagen.

 

Kofi Yakpo: Genau, bin seit ca. 2013 in Hongkong und habe davor in den Niederlanden gelebt, wo ich einen Postdoc gemacht habe und davor in Deutschland. Das letzte Mal, als ich in Deutschland gelebt habe, das war auch in Berlin, war 2009, da habe ich Deutschland verlassen. Also ich bin jetzt seit ca. 12 Jahren, 13 Jahren im Ausland.

 

Bahareh Sharifi: Sein Name war quasi Programm. Er studierte Sprachwissenschaften, zunächst in Heidelberg, später in Köln und auch in Amsterdam. Sein Interesse entdeckte er bereits als Jugendlicher, geprägt von einer mehrsprachigen und transnationalen Kindheit zwischen Deutschland und Ghana.

 

Kofi Yakpo: Ich bin eines Tages einfach am Uniplatz, mal wieder, irgendwie glaub ich zu Torch gelaufen, die Hauptstraße entlang. Und dann habe ich so “Institut für Sprachwissenschaft” so eine Plakette gesehen. Ich dachte „Wow, was ist denn das, [auflachen] Sprachwissenschaft?“ Ich war ja schon Sprachwissenschaftler. Ich habe ja schon Texte geschrieben und dachte, da gibt es eine Wissenschaft zu dem, was ich sowieso mache – wow. Und dann bin ich reingelaufen ins Institut und da war so’n schluriger, schluffiger Langzeitstudent, saß da an diesem Institut, in der Institutsbibliothek. Da sage ich: „Hey, kann ich mir mal die Sachen hier angucken, die Bücher?“ Sagt der: „Bist du Student, du bist ein bisschen jung und so.“ Sag ich: „Nee.“ Sagte er: „Geh rein, guck’s dir an.“ Das war ja damals alles noch nicht so formal. Und da bin ich reingegangen, da habe ich Grammatik des Tok Pisin aus Papua-Neuguinea, dann hab ich plötzlich eine Ewe-Grammatik entdeckt, die Sprache meines Vaters, und bin da wirklich zwei Stunden lang versunken. Und dann gehe ich zu dem Typen und sag: „Sag mal, wie kann ich denn hier Bücher mitnehmen?“ Sagt der: „Ich mache dir einen Ausweis.“ Da hat er mir so ein Kärtchen geschrieben. Und ab da habe ich dann Bücher geholt vom Institut für Sprachwissenschaft der Universität Heidelberg. Da war ich so 16, 15. Und dann ganz wichtig der Bücherschrank der Mutter von Torch, Nathalie Hahn bzw. geborene Castera, die aus einer wichtigen haitianischen Intellektuellenfamilie kommt. Und die hatte Bücher zur Haitianischen Revolution, aber eben auch Bücher über das haitianische Kreol. Die hatte die Verfassung als großes Wandbild in Original-Kreol an der Wand stehen und diesen Text, eine Seite Französisch, die andere Seite Kreol, haitianisches Kreol. Und so bin ich dann auf Kreol aufmerksam geworden, also Kreolisch als Ausdrucksform der afrikanischen Diaspora in der Karibik und die Widerstandsfunktion auch dieser Sprachen im Kampf um Befreiung. Und so kamen dann die Sachen zusammen, die politischen Interessen, die ich hatte damals, mit der spezifischen Geschichte der afrikanischen Diaspora, afrikanischen Sprachen, die ich in meiner Kindheit in Ghana mitbekommen hatte. Also ich spreche auch eineinhalb ghanaische Sprachen. [lacht] Und so war Linguistik dann irgendwann das Ding, was ich machen wollte.

 

Bahareh Sharifi: Kofi erkannte aber recht früh, dass eine akademische Karriere für ihn in Deutschland nicht in Frage käme.

 

Kofi Yakpo: Ich habe eigentlich in Deutschland außer meinem Studium nicht wirklich akademisch gearbeitet. Aber es ist schon so gewesen, dass ich während des Studiums schon irgendwie ein bisschen diese Intransparenz des Betriebs mitgekriegt habe. Ich wusste nicht genau, was muss man machen, um jetzt so zu werden wie der Leiter des Instituts? Also einfach meine Linguistik machen zu können, Feldforschung betreiben zu können und Professor für Linguistik zu werden. Das schien mir irgendwie unerreichbar, weil ich nicht verstanden habe, was die Verteilungsprinzipien waren. Wer kommt wohin und wie? Es fing ja damit an, dass du am Institut ganz viele Leute gesehen hast, die da jahrelang rumsaßen und ich wusste nicht, was die gemacht haben. Heute weiß ich, dass es der sogenannte akademische Mittelbau ist. Die Leute, die auf Zeitverträgen wirtschaftlich ein klägliches Leben führen und nie zum Zuge kommen und irgendwie zuarbeiten, den Lehrstühlen, aber eigentlich keine Hoffnung darauf haben auf feste Anstellung im deutschen Lehrbetrieb. Und da war auch so der Muff von Hierarchie, der mir nicht gepasst hat. Wie mit den Profs gesprochen wurde von Leuten, die da irgendwie temporär angestellt waren. Aber ich muss sagen, ich war am Institut bekannt, weil: ich bin dahin gekommen, hab mit Leuten geredet und so. Im Nachhinein liegt es daran, jetzt kann ich das bewerten, dass ich dadurch, dass ich draußen bekannt war und die auch wussten, was ich mache, war das eher – ich hatte da so ein bisschen einen Sonderstatus am Institut für Sprachwissenschaft. Konnte auch jederzeit irgendwie in das Büro des Professor Hans-Jürgen Sasse, einer meiner Mentoren, reinlaufen und sagen ‘Hey, wie geht’s?’ und so. Der hat sich für mich interessiert, weil ich halt sichtbar war. Deswegen habe ich das vielleicht auch noch mal anders wahrgenommen als ein Student, der sich da durchkämpfen muss, oder eine Studentin, tagtäglich. Ich bin da so ein bisschen drüber geflogen dadurch. Ich wollte sowieso irgendwie noch weiter ins Ausland, hatte Hunger rauszugehen und war schon ‘93, das weiß ich noch, mal unterwegs in Amsterdam, an der Uni dort und habe da einen Prof für Sprachwissenschaft besucht. Der wurde später auch mein Betreuer. Das war so eine schicksalhafte Begegnung, die wir da hatten in Amsterdam 1993, als ich bei ihm einfach ins Büro reingelaufen bin, und wir haben connected. Das heißt, ich wollte sowieso weg und als ich dann fertig war, habe ich erstmal was ganz anderes gemacht. Ich habe noch einen MBA gemacht, einen Master in Business Administration, weil ich irgendwie dachte, das mit der Akademie, das ist alles Quatsch, das ist Schwachsinn. Ich will die Welt verändern und so, das geht überhaupt nicht. Da muss man wissen, wie das Kapital funktioniert und nicht so idealistisch. Und dann habe ich ein Stipendium bekommen, Gott sei Dank, für einen MBA an der Uni von Genf. Dann bin ich in die Schweiz gezogen. Dann habe ich gedacht: Ah, MBA, alles Kapitalismus, alles blöd und so. Ich habe viel gelernt, aber irgendwie ist es doof. Und dann bin ich nach England gegangen, bin zu meinem Vater gezogen und habe Jura studiert. Aber nicht vollständig abgeschlossen. Zwei, nur ein Jahr, LL.B. Aber das hat natürlich wahnsinnig geholfen, weil ich da einen Fundus an Wissen mir angeeignet habe, der mir jetzt in meiner akademischen Tätigkeit unglaublich hilft. Weil ich ein sehr untypisches Profil habe, für einen Sprachwissenschaftler. Ich bin dann nach Holland, ich habe dann meine Doktorarbeit sieben, acht Jahre nebenbei gemacht. Ich habe mich dann in Holland eingeschrieben bei dem Betreuer, also an der Universität von Nijmegen – Nimwegen –, wo er damals war und hab einfach wirklich so: Kinder erzogen. Damals war ich der Haupterzieher meiner Tochter und dann später auch meines Sohnes; und gearbeitet und die Doktorarbeit gemacht. Das ging so acht Jahre lang. Und dann habe ich mich entschlossen, da gab es eine Chance für mich, in die Niederlande zu gehen und dort als Postdoc anzufangen. Und da war Deutschland eigentlich gar nicht auf dem Schirm, weil ich gar keine Kontakte hatte.

 

Bahareh Sharifi: Für eine Gastprofessur am Institut für Asien-/Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität war Kofi letztes Jahr nach Deutschland gekommen. Er erzählte uns in dem Gespräch von den aktuellen Kämpfen und Aushandlungsprozessen, die er an der Humboldt-Universität beobachtet.

 

Kofi Yakpo: Und am erschreckendsten ist, wie weiß das akademische Establishment ist. Also das ist wirklich ein Hammer. Es gibt keine einzige Afrikanistik-Professur von irgendeinem PoC oder Menschen afrikanischer Herkunft, noch nicht mal Schwarze Deutsche. Alles Weiße. Das muss man sich mal vorstellen, Afrikanistik, ja? Das wäre das gleiche, als wenn die Germanistik, wenn du als Deutschsprecher keine Chance hast, Germanistik-Stellen zu bekommen, aus welchem Grund auch immer. Ich habe jetzt auch mitgekriegt, dass am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, die glaub Black Students Organisation heißen, die haben die, Zitat, “kolonialrassistischen Verhältnisse am Asien- und Afrikawissenschaftlichen Institut der HU angeklagt. Und ich habe da ein paar Gespräche geführt und gemerkt, dass es vielleicht ein bisschen so ein Problembewusstsein gibt, aber ich frage mich, ob das System an sich überhaupt das Potenzial hat, das zu ändern. Weil natürlich ganz wichtige blinde Stellen da sind, riesige blinde Stellen. Die Frage von Quoten wird nicht angesprochen, ethnischen Quoten und eben nicht nur Frauenquoten. Die Frage von wirtschaftlicher Unsicherheit. Die ganzen Hilfsjobs machen Afrikaner und Afrikanerinnen, die ganzen Sprachlektorate, aber auch da nicht alle Sprachlektorate. Also Leute, die PHDs haben und aber dann nicht weiterkommen, sondern Sprachlektorate machen – also die Sachen, die man outsourcen kann, weil die keinen Machtverlust bedeuten. Wozu das führt, ist natürlich der Brain Drain, von dem wir alle wissen, dass es ihn gibt. Also bei mir war es letztendlich vielleicht auch ein unbewusster Brain Drain, weil ich mich diesen Kämpfen… ich hatte ja irgendwie schon genug gekämpft. Ich war ja schon Ende 20 oder 30 und dachte: „Okay, ich brauche jetzt einen ganz schnellen Fahrstuhl.“

 

Bahareh Sharifi: Kofi sah daher auch nach diesem Jahr keinen Anreiz, in Deutschland zu bleiben. Er ist mittlerweile wieder zurück an der University of Hongkong.

 

Trang Tran: Es gibt aber auch Wissenschaftler*innen, die nach ein paar Jahren im Ausland wieder zurück nach Deutschland gekommen sind.

 

Encarnación Gutiérrez Rodríguez: Ich bin Encarnación Gutiérrez Rodríguez und bin Professorin der Allgemeinen Soziologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen zurzeit. Dort haben wir auch ein Netzwerk, was sich Queer, Decolonial Feminism, and Cultural Transformation Studies nennt und regelmäßig Veranstaltungen organisiert. Und dann bin ich noch Mitinitiatorin von DeKolonial e.V., wir sind jetzt mittlerweile ein Verein. Wir haben sehr lange gebraucht und jetzt haben wir es geschafft und ich kann das hier auch in der Form lancieren. Und wir haben auch eine Webseite, die man sich anschauen kann und ihr seid alle eingeladen Mitglieder zu werden.

 

Trang Tran: Auch Encarnación hatte keinen geradlinigen akademischen Werdegang und im Laufe ihres Lebens war dieser eigentlich total stark durch migrationspolitische und transeuropäische Politiken geprägt.

 

Encarnación Gutiérrez Rodríguez: Ich bin ja jetzt Professorin und ich kann sagen, wenn ich zurückblicke, ich hatte einen wissenschaftlichen Werdegang. Aber es gab bei mir nicht die Vorstellung, ich werde einen wissenschaftlichen Werdegang durchqueren und dann die Professur irgendwann bekommen.

 

Trang Tran: Als Encarnación mit acht Jahren nach Deutschland kam, sollte sie den Behörden nach nicht auf eine deutsche Grundschule, sondern zur spanischsprachigen Förderschule. Ihre Mutter hat sich mithilfe des spanischen Elternvereins gegen diese Diskriminierung gewehrt und so konnte Encarnación doch auf eine Regelschule gehen. Wie so viele andere war auch sie von willkürlichen und rassistischen Entscheidungen im deutschen Bildungssystem betroffen. So hatte sie zum Beispiel auch keine Gymnasialempfehlung bekommen. Hinzu kam noch, dass die Migrationspolitik der 1970er Jahre sehr stark auf Rückkehr ausgerichtet war. Tatsächlich ließ diese Mischung aus Fremdheitserfahrung und Ausgrenzung in Encarnación lange Zeit einen Rückkehrwunsch aufkeimen, der sich aber nie verwirklicht hat. Ihr politischer Aktivismus und die daraus erwachsenen Bündnisse und Netzwerke hielten sie doch erst mal in Deutschland fest.

 

Encarnación Gutiérrez Rodríguez: Ich komme aus einem politisierten Elternhaus, aus einem Arbeitsmigrant*innen-Haushalt, aber auch aus einem politisierten Haushalt. Zu der Zeit, wo ich… in meiner Kindheit, war noch Franco in Spanien bis 1975, eine Diktatur. Und die spanische Migration war auch sehr stark verlinkt mit dem spanischen Exil. Und meine Familie hat sich in diesen Kreisen bewegt. Das heißt, meine Politisierung hat sehr früh angefangen, schon mit meinem Vater am Tisch sitzend über die Diktatur in Spanien zu sprechen und auf der Grundlage einer linken Analyse, würde ich sagen, die Gesellschaft und die Zustände wahrzunehmen. Auch in dem Zusammenhang von Andalusien als eine periphere Region innerhalb Spaniens, aber auch die Auseinandersetzung mit den eher wohlhabenden Teilen Europas und den mediterranen, peripheren Teilen. Das heißt, auch das war ein Thema. Und auch ziemlich früh während meiner Schulzeit, in meinem spanischsprachigen Kontext, würde ich sagen, bin ich auch in Kontakt gekommen mit dem chilenischen Exil und auch die Wahrnehmung der Diktatur in Chile und auch die Auseinandersetzung damit. Da gab es viele Verbindungen zwischen den linken, spanischen Exilanten und den chilenischen. Das heißt, es ist schon, denke ich, sehr wichtig, dass diese Auseinandersetzung mit den deutschen Verhältnissen, die sehr früh in der Schulzeit anfängt, im Rahmen einer spanischen Jugendgruppe, die auch mit einer türkischen Jugendgruppe zusammengearbeitet hat und sich über dieses Labeling als “Ausländer” und die Formen der Diskriminierung und auch in der Schule die Erfahrung zu machen, dass man Lehrer hat, die offen rassistisch sind und die auch völkisch-nationalistisches Gedankengut von sich gaben. Das heißt, diese Auseinandersetzung fängt sehr früh an und wurde dann in der Zeit, wo ich dann an der Uni war, haben die sich noch mal neu zusammengesetzt, würde ich sagen. Was wichtig war, wir waren wie gesagt auch aktiv an der Uni in autonomen Studierenden-Zusammenhängen und auch in internationalen Studierenden-Zusammenhängen. Und es gab diese zwei unterschiedlichen Bereiche, die nicht unbedingt sich trafen. Ja, das heißt einerseits diesen eher weiß-deutsch markierten linken Zusammenhang und dann diesen eher internationalistischen Studierenden-Zusammenhang, wo dann die sogenannten “Bildungsinländer*innen” zum Teil da drin waren, wie genauso Studierende, die aus dem Ausland zum Studium gekommen waren.

 

Trang Tran: Und nun erzählt uns Encarnación von den Bildungskämpfen an der Uni in Frankfurt am Main Ende der 1980er für eine bessere Lehrbedingung und Autonomie und Selbstbestimmung.

 

Encarnación Gutiérrez Rodríguez: In diesem Zusammenhang, wir hatten dann Studierendenstreik 1987. Das war eine große kleine Revolution in Frankfurt, wo wir viel blockiert haben und vieles dann übernommen haben. Und dann hat sich auch diese Gruppe internationaler Studierender zusammengefunden und sich organisiert und wollte auch die Selbstorganisierung, vor allem die politische Selbstorganisierung thematisieren. Und es war vorwiegend eine Gruppe von Frauen und vorwiegend auch von “Bildungsinländer*innen”. Es gab auch ein paar Deutsche, die da mitgemacht haben, aber die waren eher in der Minderzahl. Wir haben das Ausländer*innen-Referat besetzt und  haben das dann übernommen. Und daraus sind auch andere Verbindungen entstanden, unter anderem zu anderen, vor allem Feministinnen, die aktiv waren an der Uni in Frankfurt, aber auch in der Stadt Frankfurt. Und dann haben wir die FeMigra gegründet, die Feministische Migrantinnengruppe.

 

Trang Tran: Wie wir gerade gehört haben, waren die späten 1980er quasi eine Hochzeit für Encarnación, was politischen Aktivismus anging. Und sie und ihre Kamerad*innen haben total komplexe gesellschaftliche Analysen entwickelt, was die Rassifizierung und Migrantisierung von Frauen in der westdeutschen Gesellschaft anging. Und dann kam der Mauerfall und die Zunahme rassistischer Übergriffe, rechtsextreme Organisationen. Und ein bisschen fühlte sich das vielleicht an wie ein Rückschritt, denn plötzlich war man darauf zurückgeworfen, sich existenziell mit Rassismus zu beschäftigen. Und dennoch blieb das Thema der Migrantisierung von Frauen ein Forschungsschwerpunkt von Encarnación. Aber vielleicht lag auch genau darin ein widerständiges Potenzial, auf den Themen, die man schon behandelt hat, weiter zu beharren.

 

Encarnación Gutiérrez Rodríguez: In diesem Zusammenhang beschäftige ich mich auch mit der Repräsentation migrantisierter Frauen. Auch in den Zusammenhängen, wo ich mich bewege, gibt es immer wieder eine Kritik, wie rassifizierte migrantisierte Frauen in der Wissenschaft dargestellt werden, vor allem migrantisierte Frauen als die Unemanzipierten, im Opferstatus und auch als eine Form der Verobjektivierung migrantisierter Frauen, im Film, in der Literatur und auch in der Wissenschaft. Es gibt natürlich Ausnahmen von Schriftstellerinnen, die da schon intervenieren und andere Formen der Repräsentation stellen. Aber in der Wissenschaft treffe ich immer wieder auf diese „unterdrückten Migrantinnen“. Und daraus erwächst mein Wunsch, meine Doktorarbeit zu schreiben. Erst mal ein Buch und dann war das eine Doktorarbeit zu intellektuellen Migrantinnen, wo ich eigentlich meine Kameradinnen interviewt habe und dann mit dem Wunsch, eine andere Repräsentation von migrantisierten Frauen in Deutschland zu produzieren. Ich selber war theoretisch sehr angetan von Poststrukturalismus und über Poststrukturalismus bin ich auf Spivak gekommen, Gayatri Spivak, weil ich noch mal neben Poststrukturalismus auch sehr an Theorien interessiert war der globalen Ungleichheit, Dependenz-Theorie vor allem aus Lateinamerika. Damals fiel mir Gayatri Spivak als jemand auf, die das genau versucht hat zu verbinden. Und so kam ich eigentlich in die Wissenschaft. Es war jetzt nicht unbedingt der Wunsch, ich will jetzt eine Doktorarbeit schreiben, um dann in der Wissenschaft Karriere zu machen, sondern ich wollte diese Arbeit der Repräsentation schreiben, was dann eine Doktorarbeit wurde. Und ich kann mich auch glücklich schätzen, dass ich gefördert wurde. Ich wurde von der DFG gefördert. Ich war im Graduiertenkolleg zu Geschlechterverhältnis und sozialer Wandel, wo ich auch Sigrid Metz-Göckel und auch Ilse Lenz und ganz viele Feministinnen kennenlernte, wo ich heute als Professorin weiß, wieviel Arbeit das ist, so ein Kolleg in die Beine zu bringen und so viele Promovend*innen auch in die Wissenschaft rein zu bewegen. Und sie haben ja auch was verändert in dieser Wissenschaft, weil das nicht so ohne Weiteres zu verändern geht. Zunächst, als ich meine Doktorarbeit fertig hatte, hatte ich erst mal keine Perspektiven, wollte wieder nach Spanien zurück, war dann aber bei der internationalen Frauen-Universität, da kam was auf. Und dann bekam ich die Stelle in Hamburg und dann war ich plötzlich doch in diesem Karriereweg der Wissenschaft. Wobei ich immer das Gefühl hatte, dass das so eine Glückssache ist für Personen mit meinem Lebenslauf, ob wir es wirklich schaffen. Ich weiß, es ist prekär für alle Beteiligten in der Wissenschaft. Es ist es kein leichter Weg. Aber ich glaube, dass vor allem Personen, die migrantisiert, rassifiziert, aber auch aus dem Arbeiterkontext kommen, es erst mal verstehen müssen, wie diese Institution funktioniert und was es bedeutet, da drin zu sein. Manchmal, wenn man aus einem professoralen Umfeld kommt, weiß man das auch, ja. Aber wenn jemand rassifiziert oder migrantisiert ist und aus diesem Umfeld kommt, aber trotzdem wird man dann sozusagen in der Wissenschaft Formen der Wahrnehmung, der Einschätzung dann wiederfinden, wo man eher eine Entwertung erfährt als eine Aufwertung und natürlich auch oft, wenn nicht ein hetero-patriarchaler maskuliner Habitus und middle-class Habitus praktiziert wird.

 

Trang Tran: 2003 brachte Encarnación gemeinsam mit der Künstlerin Hito Steyerl den Sammelband Spricht die Subalterne Deutsch raus. Dieser Band mag zwar nicht Teil des akademischen Kanons sein, aber für all jene, die Kontinuitäten von Nationalismus und Postkolonialismus in Deutschland aus marginalisierter Perspektive und Wissensproduktion verstehen wollen, ist das Buch wegweisend und essenziell.

 

Encarnación Gutiérrez Rodríguez: Okay, ja, Spricht die Subalterne Deutsch, Hito hatte die Idee, das so zu nennen. Und das Projekt entstand auf der Grundlage einer Vorlesungsreihe, die ich in Hamburg organisiert habe und noch Personen, die wir eingeladen haben, an diesem Projekt teilzunehmen. Hito Steyerl und ich, damals haben wir uns damit beschäftigt mit der Debatte in Deutschland, wo es darum ging, dass man Postkolonialismus nicht einfach auf die deutschen Verhältnisse anwenden könnte. Und wir hatten dazu eine andere Meinung. Und deswegen haben wir dann diese Publikation herausgegeben.

 

Trang Tran: Wir halten fest: das Buch kam bereits 2003 raus, als postkoloniale Theorie kaum als gesellschaftsanalytisches Werkzeug genutzt wurde. 20 Jahre später ist der Begriff „postkolonial“ nicht mehr aus den sozial- und geisteswissenschaftlichen Debatten wegzudenken.

 

Encarnación Gutiérrez Rodríguez: Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie hatte, glaube ich, vor zwei Jahren das Thema „Postkolonialität“, aber hat alle, die so lange zu diesem Thema in Deutschland arbeiten, vergessen. Also das ist die Regelmäßigkeit. Ich glaube, wichtig ist es, in einem Netzwerk von Aktivistinnen zu sein, die dann irgendwann wissenschaftlich tätig werden und trotzdem auch weiterhin in diesem Zusammenhang in Verbindung sind und kommunizieren und arbeiten.

 

Trang Tran: Encarnación hat es geschafft, kritische Theorie und Praxis miteinander zu vereinen und dennoch einen akademischen Werdegang zu beschreiten. Vermutlich hat es auch nicht geschadet, ein Umweg über das Ausland zu machen. Es scheint so, als würden Akademiker*innen aus marginalisierten Communities erst interessant im deutschen Hochschulbereich, wenn sie Anerkennung im Ausland finden. Aber wie sehen die Erfahrungen aus von Wissenschaftler*innen, die nicht ins Ausland gegangen, sondern in Deutschland geblieben sind?

 

Kien Nghi Ha: Ich heiße Kien Nghi Ha. Ich bin Politik- und Kulturwissenschaftler.

 

Trang Tran: Auch Nghis wissenschaftliche und aktivistische Entwicklung ist stark von seiner Biografie geprägt.

 

Kien Nghi Ha: Ich bin 1972 in Hanoi geboren worden. Das war mitten im Vietnamkrieg, wie er in den USA genannt wird. In Vietnam wird dieser Krieg aber auch der US-Krieg in unserem Land, in Vietnam, genannt. Ich bin als Teil der chinesischen Minderheit in Vietnam aufgewachsen, wobei ein Teil meiner Familie vietnamesisch ist und der andere Teil ist vor bzw. auch während der japanischen Invasion während des Zweiten Weltkriegs aus Südchina. Nach dem Ende des Vietnamkrieges gab es zwischen China und Vietnam große politische Konflikte und Verwerfungen, die auch zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Ländern geführt hat. Im Zuge dieser politischen Eskalation wurde auch die chinesische Minderheit in Vietnam immer stärker angegriffen. Meine Freunde haben sich von mir abgewandt, weil sie in mir einen Chinesen sahen und damit war ich dann für sie auch eine Persona non grata. Und aufgrund dieser zunehmenden Spannungen sind meine Eltern auch Teil der ersten Boat People-Bewegung nach Hongkong geflohen und wir sind dann im August 1979 als sogenannte Boat People von der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen worden. Ich bin selber im Märkischen Viertel in Westberlin aufgewachsen. Zu meiner Zeit, als ich dann in die zweite Klasse eingeschult wurde, war ich das einzige Ausländerkind bzw. es gab noch…, war ich einer der wenigen. Es gab noch andere migrantische Kinder, zwei ägyptische Zwillinge, die aber extrem von der Klasse gemobbt wurden. Und das waren Formen der rassischen Ausgrenzung, die ich aber damals überhaupt nicht verstanden habe als Kind. Und ich war sozusagen froh, nicht selber gemobbt zu werden. Und dementsprechend ist das Ankommen in Westdeutschland auch immer mit Fremdheitserfahrung und unterschiedlichen Zuschreibungen von Anderssein verbunden. Auf jeden Fall hatte ich dann am Ende der Grundschule eine Realschulempfehlung bekommen und ging dann zunächst auch auf eine Realschule. In der neunten Klasse bin ich dann auf eigenes Bestreben hin in die Gesamtschule gewechselt, habe dort das Abitur gemacht. Und zwischenzeitlich wurde ich 1988 auch eingebürgert. Wir mussten damals auch den Einbürgerungstest und den Deutschtest machen. Nach dem Abitur wollte ich eigentlich zunächst meinen Eltern zuliebe einem gesicherten Job nachgehen und wollte Beamter in der mittleren Laufbahn beim Arbeitsamt werden. Es gab dann auch Eignungstests und Vorstellungstests und ich glaube, es gab auch sogar psychologische Tests. Das war leider eine ziemlich traumatische Erfahrung für mich, weil ich nicht nur abgelehnt wurde, sondern bei der Auswertung wurde mir dann gesagt, dass ich irgendwie auf dem Stand eines Neuntklässlers in der Hauptklasse war. Und das hat mich vollkommen deprimiert und auch ziemlich aus der Fassung gebracht, weil ich hatte das Abitur gemacht und war dort Vierbester in meinem Jahrgang. Und dann auf einmal so eine Bruchlandung in der harten Realität außerhalb der Schule zu erleben, das war schon ein krasser Realitätscheck. Ich habe mich dann für das Studium der Politikwissenschaft an der Freien Universität am Otto-Suhr-Institut angemeldet und bin dort ziemlich schnell in das studentische Leben am Otto-Suhr-Institut eingestiegen. Ich war auch in verschiedenen studentischen Gruppen aktiv, wir haben als Kollektiv das studentische Café Geschwulst betrieben, haben autonome Seminare gemacht zu den Themen, die dieser Zeit tatsächlich lichterloh brannten. Und da war natürlich die aggressive, nationalistische, rassistische Gewalt, die in den frühen 90er Jahren einfach einer Aufarbeitung, auch einer Theoretisierung bedurft haben. Wir haben uns an Demos beteiligt, wir haben auch, also ich habe auch versucht, Geflüchtete, die für mehrere Monate das Mathe-Gebäude an der TU Berlin besetzt hatten, zu unterstützen und hab dort auch mit vielen PoCs zusammengearbeitet, teilweise als Betroffene geflüchtete Menschen, die praktische Unterstützung brauchten, aber auch studentische PoCs, die aus der politischen Notwendigkeit heraus Unterstützungsarbeit leisten zu wollen, mich halt vernetzt und von dort ging es auch darum, immer wieder ein Stück weit praktische Solidarität zu leben. Und das war auch eine wichtige Erfahrung, die mein Studium und auch meinen Wissenschaftsbegriff mitgeprägt haben. Ich habe dann 1998 mein Studium der Politikwissenschaft mit einer Diplomarbeit über Kulturelle Identitäten von MigrantInnen und die Multikulturalismus-Debatte - Ethnizität und Differenz im postkolonialen Diskurs abgeschlossen. Das war, denke ich mal, eine der ersten Arbeiten, die im deutschen, deutschsprachigen Kontext damals diesen sich entwickelnden internationalen postkolonialen Diskurs nicht nur rezipiert haben, sondern ich habe in meiner Diplomarbeit versucht, diese Ansätze auf die Erfahrung der sogenannten Gastarbeiter-Generation, ihrer Nachkommen anzuwenden und hab mir Sekundärliteratur von deutsch-türkischen Menschen in der zweiten Generation herausgesucht. Und ich fand ganz, ganz viele Anknüpfungspunkte und dafür waren postkoloniale, aber auch Cultural Studies-Ansätze sehr, sehr hilfreich.

 

Trang Tran: Nghis akademischer Werdegang verläuft erstmal ziemlich reibungslos. Seine Diplomarbeit wurde als Grundlagentext publiziert. Er bekam ein Promotionsstipendium und war mit anderen postkolonialen Theoretiker*innen im Austausch.

 

Kien Nghi Ha: Nachdem ich dann meine Diplomarbeit geschrieben hatte, habe ich mich gefragt, was ich machen sollte. Dann hatte ich das Glück gehabt ein Promotionsstipendium der Heinrich-Böll-Stiftung zu bekommen und ich war in der gleichen Generation mit Menschen wie Maisha Auma oder Grada Kilomba oder Mariam Popal. Wir waren alle der gleiche Jahrgang, sozusagen der postkoloniale Jahrgang. Es war schon eine sehr schöne Konstellation mit solchen Menschen zusammen diskutieren und sich austauschen zu können. Und das war für mich auch eine grundsätzlich neue Erfahrung und auch eine grundsätzlich neue Qualität.

 

Trang Tran: 2011 wurde seine Dissertation In The Mix. Postkoloniale Streifzüge durch die Kulturgeschichte der Hybridität mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien ausgezeichnet. Darin entwickelte Nghi eine postkoloniale und rassismuskritische Kulturgeschichte des Begriffs der Hybridität im deutschen Kontext, was vor ihm so noch niemand gemacht hat. Als Nachwuchswissenschaftler war Nghi mit dieser Doktorarbeit auf dem besten Wege, sich akademisch zu profilieren. 2012 passierte aber etwas ziemlich Unerwartetes. In der Zeitschrift IASL, das steht für “Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur” erschien eine Rezension zu Nghis Doktorarbeit, die seine wissenschaftliche Arbeitsweise in Frage stellt. In dieser Rezension wird Nghi im Grunde genommen unterstellt, dass er unsauber mit Quellen arbeiten würde und seine Argumente daher unbrauchbar seien. Für Nghi war dieser Verriss nur schwer zu verdauen. Und wir halten fest: es handelte sich hier nicht um irgendeine stümperhafte Bachelorarbeit, sondern um seine mehrfach ausgezeichnete Doktorarbeit. Nghi musste dann aber auch noch feststellen, dass die Kritik in der Rezension selbst fehlerhaft war. Er bat bei der Fachzeitschrift um Überprüfung und wurde mehrfach mit der Erklärung abgewimmelt, dass hier schon alles mit rechten Dingen und ganz wissenschaftlich zugehe. Es gab keine Beschwerdemöglichkeit und kein Verfahren, um diesen Konflikt zu behandeln. Stattdessen wurde Nghi auf unterschiedliche Art und Weise kommuniziert, dass er mit seinen Nachfragen einfach nur störte. Das Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg unterstützte Nghi mit einem öffentlichen Brief. Aber der Schaden war bereits angerichtet. Ngi wurde nicht nur im Fach der Kulturwissenschaft öffentlich diffamiert, er wurde auch erstmals von einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Institution Wissenschaft heimgesucht. Dies versuchte er auf unterschiedliche Art und Weise produktiv zu verarbeiten.

 

Kien Nghi Ha: Ich denke, dass eine solche Arbeitskultur natürlich auch zu Ausgrenzung etwa bei Bewerbungsverfahren führt. Wenn solche offensichtlichen Fehler, also Fehler im Verfahren, nicht mal als solche anerkannt werden können. Ich habe dann im Juni 2016 an einer Einleitung für die Heinrich-Böll-Stiftung gearbeitet, weil wir damals das Dossier Geschlossene Gesellschaft, Exklusion und rassistische Diskriminierung an deutschen Universitäten erarbeitet haben, habe ich dann diesen Fall versucht zu rekonstruieren und das als ein Fallbeispiel, auch als eine persönliche Erfahrung im Umgang mit Ausgrenzung und, wie soll ich sagen, mit den Fallstricken von vermeintlich objektiven neutralen Arbeitsweisen im Zitierten zur Diskussion zu stellen. Ich habe da ganz verschiedene Erfahrungen oder und auch Geschichten darüber gehört, mit welchen verschiedenen Begründungen vor allem People of Color-Wissenschaftler*innen abgelehnt werden. Zum Beispiel, wenn in Anträgen auf ein Promotionsstipendium als Grund für die Absage genannt wird, da ist zuviel Opferperspektive drin, weil das Forschungsprojekt bestrebt ist, die Perspektiven der Betroffenen hörbar zu machen, dafür einen Resonanzraum zu schaffen und diese Unsichtbarkeit zu dekonstruieren und mit einer anderen Sichtbarkeit zu konfrontieren. Wenn das als Opferperspektive bezeichnet wird, dass rassistische Normalitäten oder Normalitätskonstruktion sichtbar gemacht werden, dann ist das natürlich eine sehr krasse Aussage. Aber dass es auch dann so offen kommuniziert werden konnte in der Rückmeldung auf die Frage “Warum wurde mein Antrag abgelehnt?”, zeigt natürlich auch – ok, dieses Beispiel liegt jetzt auch inzwischen zehn Jahre zurück – aber das zeigt trotzdem eine gewisse Selbstverständlichkeit von dem, was vollkommen in Ordnung ist, nämlich Opferperspektiven als ein Problem zu deklarieren, als ein Problem zu definieren, die wir eben nicht institutionell fördern wollen, die keinen Platz in der akademischen Wissensproduktion bekommen sollen.

 

Trang Tran: Auch wenn Nghi mit vielen Ausschlüssen im Wissenschaftsbetrieb konfrontiert war, so hat er es doch geschafft, sich seine eigenen Räume der Wissensproduktion und des Aktivismus herzustellen. Sammelbände wie re/visionen, welcher 2007 herausgekommen ist und von ihm mit herausgegeben wurde, zeigen, dass Wissensproduktion auch in nicht-akademischen Räumen möglich ist und neue Maßstäbe setzen kann.

 

Bahareh Sharifi: Bis jetzt haben wir uns mit westdeutschen Perspektiven beschäftigt, uns interessierte aber auch, wie es rassifizierten Menschen aus Ostdeutschland ging.

 

Patrice Poutrus: Mein Name ist Patrice Poutrus. Ich bin Historiker von Beruf und ich habe 1990 an der Humboldt-Universität angefangen, Geschichte und Sozialwissenschaften zu studieren, hab 2000 an der Viadrina promoviert und schlängele mich seitdem so durchs akademische Prekariat. Zurzeit bin ich in der vorteilhaften Situation an der Universität Erfurt als wissenschaftlicher Mitarbeiter angestellt zu sein, in einem Forschungsprojekt zu Diktaturerfahrung und Transformation in der Familienerinnerung in Thüringen.

 

Bahareh Sharifi: In der ehemaligen DDR wurden nur wenige zum Abitur und Studium zugelassen. Patrice Poutros erzählte uns, dass überwiegend diejenigen ausgesucht wurden, die eine Laufbahn bei der SED einschlagen sollten. Auch er selbst hat versucht, Loyalität zu demonstrieren, war damit aber nicht besonders erfolgreich. Später hatte er verstanden, dass sein binationaler Familienhintergrund ihn als vertrauensunwürdig erschienen ließ. Stattdessen hat er eine Ausbildung begonnen

 

Patrice Poutrus: Und dann auf der Abendschule in der DDR das Abitur nachgemacht, was eine deutlich andere Nummer ist als über den zweiten Bildungsweg in der Bundesrepublik, weil man tatsächlich, wie in der DDR alle Leute, achtdreiviertel Stunden arbeiten musste und das war reine Arbeitszeit ohne Pausen. Also dass man nach ungefähr zehn Stunden von der Arbeitsstelle kam und dann drei- oder viermal die Woche zur Volkshochschule fuhr, um dann von 17 bis 21:30 Uhr das Abitur noch abzulegen. Aber ich hatte die Hochschulreife dann, 1988, und hatte mich dann versucht auf verschiedene Studienrichtungen zu bewerben, von denen ich glaubte, sie würden mich interessieren. Interessanterweise zeigte sich das dann da wieder. Ich wollte zum Beispiel Jura studieren. Das ging irgendwie nicht. Und da wollte ich Geschichte studieren. Das ging auch nicht. Und dann haben sich sozusagen die Dinge turbulent entwickelt. Dann war irgendwie 1989, war ich in der FDJ-Bezirksleitung in Ostberlin Mitarbeiter, und dann habe ich tatsächlich eine Delegierung zum Fernstudium für Geschichte bekommen. Das wäre so gewesen, dass ich dann fünf Jahre lang einen Tag pro Woche zur Humboldt-Universität gelaufen wäre. Das hätte mir schon gut gefallen. Und das Studium 1989 fing an, und wie bei allen mit Marxismus-Leninismus. Und das war sehr interessant, weil: in den ersten Seminaren erfuhren wir noch die reine Lehre des Kommunismus und auf den Straßen der Republik marschierten die Leute, um den Kommunismus abzuschaffen.

 

Bahareh Sharifi: Sein akademischer Weg begann unmittelbar in der Umbruchphase der deutsch-deutschen Vereinigung. Im Wintersemester 1990/91 begann er ein Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Wenige Tage danach, am 3. Oktober 1990, wurde der Beitritt der DDR in die BRD gesetzlich wirksam und existierte damit nicht mehr. Er sah direkt vor seinen eigenen Augen, wie das System, in dem er aufgewachsen war, von einem anderen überschrieben wurde. Dabei zeichnete er uns ein differenziertes Bild.

 

Patrice Poutrus: Und parallel dazu habe ich ja gedacht, wenn ich an die Humboldt-Universität komme, komme ich aus diesem ganzen Trubel, den die untergehende DDR und das entstehende Ostdeutschland da überall verursachte, dass ich da so ein bisschen rauskomme. Und es war genau das Gegenteil der Fall. Die Universität wurde, und zwar gar nicht in akademischer Hinsicht, sondern in politischer Hinsicht, zu einem zentralen Konfliktpunkt der deutschen Einheit. Und das war, wie soll ich sagen, das war zusätzlich anstrengend. Dass Anfang der 90er Jahre es so gut wie unmöglich war, ostdeutsche Professoren auf Professuren wieder zu berufen, und zwar aufgrund der öffentlichen Meinung. An der Humboldt-Universität – die war damals ein Brennpunkt – ist es insbesondere in den, was wir heute die Geisteswissenschaften nennen und damals irgendwie die Gesellschaftswissenschaften genannt wurden, war ganz klar, dass gar nicht so sehr wegen der Qualifikation der Einzelnen – da hätte man vermutlich auch Ausnahmen machen können –, dass aber wegen ihrer politischen Belastung oder das, was in der Öffentlichkeit als politische Belastung angesehen wurde, eigentlich so gut wie niemand übernommen werden konnte. Und dann sind Kommissionen gebildet worden, die aus dem westdeutschen Institutionengefüge kamen, wie vom Wissenschaftsministerium, vom Wissenschaftsrat. Dann sind aber auch an den Universitäten Kommissionen, Struktur- und Berufungskommission gebildet worden. Und dann setzte der Kampf um die Neuberufung ein. Und immer, wenn es doch die Überlegung gab, den einen oder anderen zu übernehmen oder jemand aus der ehemaligen DDR neu zu berufen, dann ist so ein Generalverdacht formuliert worden, sodass diese Kommission, die, in dem immer auch Ostdeutsche saßen, sozusagen auf der sicheren Seite waren, wenn sie Westdeutsche beriefen. Das reduzierte die Konflikte, das reduzierte die öffentliche Aufmerksamkeit. Und das war auch das, was die Mehrheit der Ostdeutschen wollte. Sie wollten eben keine alten SED-Professoren mehr, egal, welchen Alters die tatsächlich waren, und auch egal, wessen man sie beschuldigen konnte oder eben nicht. Das war genau der Zeitpunkt, als ich anfange zu studieren.

 

Bahareh Sharifi: Von den Umbrüchen waren nicht nur die Lehrbeauftragten betroffen, sondern auch die Studierenden. Die Schulbildung in der ehemaligen DDR hatte sie mit ganz anderen Voraussetzungen und Wissen ausgestattet, das in dem Hochschulsystem der BRD nur bedingt anwendbar war. Damit waren sie im Vergleich zu ihren westdeutschen Kommiliton*innen klar im Nachteil.

 

Patrice Poutrus: Und hinzu kam, dass ich während des Studiums gemerkt habe, was wir alles nicht konnten. Wir konnten zum Beispiel keine guten modernen Fremdsprachen sprechen. Russisch eben auch nicht vernünftig. Ich habe das Abitur in Russisch gemacht, aber dennoch qualifizierte das kaum dazu, wie ich schon als junger Mann feststellte, auf den Straßen von Moskau sich ein Eis zu kaufen. Und dann waren die Bibliotheken unglaublich schlecht ausgestattet. Aber gleichzeitig ist es so gewesen, dass die Ausstattung der Universitäten nicht das vordere Ziel der deutschen Einheit war. Es sind zwar neue Universitäten gegründet worden, aber später hat sogar der Wissenschaftsrat festgestellt, dass sie alle komplett unterfinanziert waren. Was übrigens auch dazu geführt hat, dass eine ganze Reihe von karriereorientierten Kommiliton*innen doch lieber an West-Universitäten gewechselt sind, nach Westdeutschland in den 90er Jahren und da ihre akademische Karriere gemacht, weil da die Bedingungen so viel besser waren, worüber auch in dem Kontext, wie ich finde, viel zu wenig geredet wurde.

 

Bahareh Sharifi: Mitte der 1990er beendete er sein Magisterstudium und begann als einer der ersten Doktoranden am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung. Das Institut wurde 1996 in Potsdam gegründet und diente zunächst unter anderem der Historisierung der DDR. Patrice Poutrus selbst ging es auch darum, die Geschichte der DDR in der Komplexität zu verstehen, die er weder in seiner Schulzeit in der DDR noch in seinem Geschichtsstudium in der BRD gelernt und erfahren hatte.

 

Patrice Poutrus: Ich war da inzwischen alleinerziehender Vater von zwei Kindern mit einer halben Doktorandenstelle, schon sehr speziell. Und dann gab es in Ostdeutschland zu der Zeit, also um die Jahrtausendwende, plötzlich – ich war gerade dabei, die losen Enden meiner Dissertation, also Gesellschaftspolitik, soziale Konflikte, ökonomische Disparitäten, alltägliche Praktiken, zu versuchen, die irgendwie zusammen zu knoten – und dann brach in Ostdeutschland, gab es um die Jahrtausendwende eine Welle von rassistischen Angriffen, insbesondere auf Ausländer*innen. Und es kehrte eine Diskussion zurück, die es Anfang der 90er Jahre schon mal gab, die sozusagen ganz ohne Belege, würde ich heute sagen, behauptet, das hat alles mit den Härten des Transformationsprozesses zu tun. Da habe ich sowohl aus meiner Lebenserfahrung als auch aus dem, was – ich war in einer Arbeitsgruppe, die sich soviel mit Alltagsgeschichte der DDR beschäftigte und eines der wichtigsten Ergebnisse war, dass unter den scheinbar politisch so anderen Bedingungen die Alltagsbeziehungen sich gar nicht so anders gestalteten, sondern dass die im hohen Maße eine Kontinuität auch zu der Zeit und eben nicht eine politische, sondern eine alltagskulturelle Kontinuität zu der Zeit vor 1945 aufwiesen. Und das, wie es übrigens auch die Zeitgenoss*innen immer wieder betonten: “Das haben wir früher schon so gemacht, das machen wir heute.” Und da habe ich mit mehreren jungen Kollegen zusammen ein Thesenpapier aufgeschrieben…  haben dieses “vor 90, nach 90”, dieses Argument gilt nicht, sondern es gilt eher zu fragen, wo sozusagen Kontinuitäten und neue Dynamiken zusammengreifen. Und wir haben darauf verwiesen, dass es eigentlich keine guten Forschungen dazu gibt. Da gab es merkwürdigerweise kaum systematische Untersuchungen zu Vertragsarbeitnehmer*innen in der DDR, obwohl die das Hauptziel rassistischer Anschläge nach 1990 wurden. Aber auch Fragen, was ausländische Studierende oder eben auch Asylsuchende bzw. politische Flüchtlinge, was es auch gab, womit ich mich dann später beschäftigt habe. Und wir haben, uns ist in der Diskussion immer wieder vorgeworfen worden, dass wir versuchen, uns hier nur auf einen politischen Trend rauf zu werfen, um unsere Karrieren zu sichern. Und genau das Gegenteil war der Fall. Nichts war schwerer, als Forschungsprojekte zu diesen Themenfeldern finanziert zu bekommen. Am Ende ist es uns gelungen zwei kleine Forschungsprojekte, das eine war tatsächlich zu Besatzungstruppen und das andere zu politischen Flüchtlingen in der DDR, zu machen. Und immer wenn wir die Ergebnisse in der Öffentlichkeit vorstellten, kam reflexartig die Frage: “Und wie ist es im Westen?”

 

Bahareh Sharifi: 2019 veröffentlichte er das Buch “Umkämpftes Asyl”, wo er seine Forschungsergebnisse veröffentlichte. Wir werden uns in einer späteren Folge seinen Erkenntnissen näher widmen.

 

Trang Tran: Wir alle haben sicherlich schon mal den Ausdruck “Wissen ist Macht” gehört. Die Geschichten von Ben Baader, Fatima, El-Tayeb, Kofi Yakpo, Encarnación Gutiérrez-Rodrígues, Kien Nghi Ha und Patrice Poutrus zeigen, dass dieser Zusammenhang von Macht und Wissen viele Widersprüche enthält. Unsere Protagonist*innen haben einerseits die Wissenschaft und ihre Methoden, die Strukturen der Uni mit ihren vielfältigen Ressourcen genutzt, um sich selbst und ihre Communities zu empowern. Andererseits haben ihnen dieselben Strukturen und die dominierenden Wissensbestände immer wieder Steine in die Verwirklichung ihrer eigenen Karrieren gelegt. Unterm Strich ist es leider auch heute noch so. Wer sich aus einer sogenannten Betroffenenperspektive wissenschaftlich mit deutscher Geschichte und Gegenwart beschäftigen möchte, wird schnell an den Rand gedrängt und als unwissenschaftlich abgetan. Vor dem Hintergrund, dass es sowieso schwer ist, an den deutschen Unis gute Jobs zu bekommen, gestaltet sich die gläserne Decke für Nachwuchswissenschaftler*innen, die mehrfach diskriminiert werden, als noch undurchlässiger.

 

Bahareh Sharifi: In den späten 80ern und 90ern sahen sich unsere Protagonist*innen mit einem erstarkten deutschen Nationalismus und täglicher rassistischer Gewalt konfrontiert. Genau da war es besonders wichtig, Rassismus als strukturelles Problem zu benennen und im Detail ausbuchstabieren, was das bedeutet. Zum Beispiel, dass Kinder von Arbeitsmigrant*innen und Geflüchteten in segregierte Klassen geschickt wurden. Oder dass sie von Profs und Kolleg*innen immer nur als Repräsentant*innen der eigenen Community gesehen wurden.

 

Trang Tran: Unsere Protagonist*innen haben bereits früh angefangen, die damaligen Verhältnisse rassismuskritisch und postkolonial zur deutschen Geschichte in Bezug zu setzen. Dabei beschrieben sie die historischen Kontinuitäten von Rassismus und Antisemitismus und deren massiven Auswirkungen auf die betroffenen Communities. Während deren Wissensproduktion auf große Resonanz in den Communities selbst stießen, blieben sie im weißen Wissenschaftsbetrieb außen vor. Viele marginalisierte Nachwuchswissenschaftler*innen erhielten keinen Zugang zu guten Stellen, keine Forschungsfinanzierung, keine Stipendien. Deren Arbeiten sind auch heute noch nicht im Kanon akzeptiert.

 

Bahareh Sharifi: Das führte dazu, dass viele ins Ausland gegangen sind und dadurch hier vor Ort große Wissenslücken entstanden sind. Für uns ist das eine Art von Brain Drain. Eigentlich bezeichnet Brain Drain die Abwanderung von gut ausgebildeten jungen Menschen aus einem ökonomisch schwachen in ein ökonomisch starkes Land. Hier allerdings verliert der deutschsprachige Kontext wichtige wegweisende Denker*innen durch strukturellen Ausschluss.

 

Trang Tran: Nicht nur der Wissenschaft sind kluge Köpfe verloren gegangen. Viel wichtiger ist eigentlich, was den Communities durch das Wegbrechen solcher rassismuskritischer Perspektiven genommen wird. Wir können nur spekulieren, wie aktuelle Diskussionen um Rassismus und Antisemitismus aussehen würden, wenn alle, die in dieser Folge zu Wort kamen, vor uns als Professor*innen in unseren Seminaren gestanden hätten. Wir hätten unmittelbaren Zugang zu ihrer Forschung gehabt und hätten ihre Erkenntnisse in die konkrete Praxis umsetzen können.

 

Bahareh Sharifi: Stattdessen liegt ein Haufen Lose Fäden vor uns. Im Laufe des Podcast wollen wir die einzelnen Fäden aufgreifen und miteinander verknüpfen. In der nächsten Folge beschäftigen wir uns mit feministischen Bündnissen jenseits der weiß-deutsch-christlichen Frauenbewegung. Passend dazu möchten wir zu Ben Baader zurückkehren. Ben Baader hat einen Abschiedsbrief verfasst, der 1993 in dem Sammelband “Entfernte Verbindungen” erschien. Unsere Podcast-Komplizin Miriam Schickler wird einen Teil des Briefes vorlesen.

 

Miriam Schickler: “In engagierten feministischen Kreisen steht das Thema „Rassismus“ heute im Vordergrund. Dies ist in einer Situation, in der rassistische Gewalt und pogromartige Vorfälle ungeahnte Ausmaße annehmen, notwendig, und das Engagement bleibt durchaus hinter den bescheidensten Erwartungen zurück. Aber auch über rassistische Strukturen in diesem Land könnte frau mehr verstehen, wenn sie die Geschichte des Antisemitismus einbezöge. Ansätze in diese Richtung, die es vor wenigen Jahren gegeben hat, geraten schon wieder in Vergessenheit. Und die „Generation“ jüdischer Frauen, die sich jahrelang bemühte, Antisemitismus auch für nicht-jüdische Frauen zum Thema zu machen, ist erschöpft. Wird es eine neue geben?

Am schwersten fällt es mir, diese Erschöpfung meiner Freundinnen befriedigend zu erklären. Ist es eine Verschnaufpause, oder sind wir eine Gattung, die die Geschichte überholt und die überflüssig wird? Haben unser Scheitern und unsere Hoffnungslosigkeit mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten jüdischer Existenz im veränderten Deutschland zu tun, oder sollen wir sie eher im Kontext der umfassenden Niederlage linker Politik sehen? Ich weiß, dass ich zu einem Zeitpunkt, als viele meiner linken Freundinnen und Freunde vom Siegeszug des Kapitalismus und vom erneuten Aufstieg der Weltmacht Deutschland überwältigt waren, bewusst auf Bündnisarbeit in der Frauenbewegung als eine Politik der kleinen Schritte setzte. Vielleicht geht diese Rechnung nicht auf. Oder hätten diese Bündnisse eine Chance, wenn es mehr jüdische Frauen gäbe, die die Kraft und den Mut hätten, sich wirklich darauf einzulassen? Oder sind die Bedingungen in Deutschland einfach so, dass sie jüdische Frauen bis zur Unkenntlichkeit verschleißen, wenn sie sich nicht stromlinienförmig stellen und „jüdische Gefühle“ nur unter sich äußern?

Für mich gilt, dass ich es müde bin, mich im deutschen Kontext aufzureiben. Ich will es nicht mehr aushalten müssen, hier jüdisch zu sein. Ich gehe fort und wünsche Euch, die Ihr zurückbleibt, dass Ihr Wege zu neuen Bündnissen und zu weiterem politischen Handeln findet.”

 

[Outro]: Das war “Lose Fäden”. Konzeption und Redaktion: Trang Tran, Bahareh Sharifi, Miriam Schickler und Melmun Bajarchuu. Soundproduktion: Miriam Schickler, Logo: Patu, Webseite: Michail Rybakov. Gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa des Landes Berlin.